Siebeneinhalb Jahre zu Unrecht in Haft

Aus Falschbeschuldigung
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MAGDEBURG/MZ. Beim Freispruch sagte die Richterin: "Das Urteil kann nicht wettmachen, was Sie in sieben Jahren erlitten haben. Wir müssen uns im Namen der Justiz bei Ihnen entschuldigen." Entschuldigen für genau gesagt siebeneinhalb Jahre, die Herbert B. zu Unrecht im Gefängnis saß.[1]

Der nun 72-Jährige aus dem Saalekreis hat immer bestritten, seine damals 21jährige Tochter 2003 dreimal vergewaltigt zu haben. Dennoch wurde der achtfache Vater 2004 am Landgericht Halle in einem Prozess, in dem Aussage gegen Aussage stand, zu zehn Jahren Haft verurteilt. Weil ein Gericht "handwerkliche Fehler" machte, wie es die Magdeburger Richterin Claudia Methling nun formuliert. Am Landgericht Magdeburg wird B. am Freitag im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Die Kammer ist fest davon überzeugt, dass er die Taten nicht begangen hat. Dass 2004 das hallesche Gericht, wie die Magdeburger Staatsanwältin es im Plädoyer formuliert, "einer kranken Frau aufgesessen ist". Auch, so kritisiert Verteidiger Johann Schwenn, weil es sich damals mit den Aussagen von Ärzten des vermeintlichen Opfers begnügt statt einen unabhängigen Gutachter zu beauftragen.

Es sind die Aussagen dieser Ärzte, die in Magdeburg den psychiatrischen Gutachter Rolf Bayerl den Kopf schütteln und von einer "mittleren Katastrophe" reden lassen. Sie hätten Tanja B. wegen posttraumatischer Belastungsstörung behandelt, aber nie objektiv eruiert, ob es das Trauma - die Vergewaltigungen - tatsächlich gab. Tanja B. hat gynäkologische Untersuchungen zum Beispiel verweigert. Aus den Akten gehe nicht hervor, ob sie nicht gar noch Jungfrau ist.

Der Gutachter zeichnet das Bild einer Frau, die schon als Kind psychisch labil ist, Anzeichen hat, die charakteristisch sind für ihre 2001 / 2002 manifestierte krankhafte Persönlichkeitsstörung namens Borderline. Tanja B. ritzt sich die Arme auf. Typisch für ihre Störung, heißt es, sei auch, immer noch einen draufzusetzen, um sich die Zuwendung ihrer Umwelt zu sichern. Erst die von einer Pädagogin während der Lehre, dann die von Psychiatern und Psychotherapeuten. Da ist zum Beispiel ihr Bericht über eine Vergewaltigung durch einen Bekannten ihrer Freundin. Dann die Vorwürfe gegen ihren Vater. Eine vermeintliche Vergewaltigung durch 13 Freunde ihres Vaters, bei der letzterer sie festgehalten haben soll. Die Geschichte, jene Männer würden sie trotz Umzügen immer wieder finden, weil einer von ihnen Polizist sei. Der Tod eines Freundes, der in den Akten ein Phantom bleibt. Und Briefe, in denen sie Vergewaltigungen schildert, weil sie "nicht darüber reden konnte", wie Zeuginnen sagen. Bei der Art, wie sie in Briefen die Taten beschreibt, "lässt sich jeder erfahrene Psychiater nicht über den Tisch ziehen", so Bayerl. Für ihn waren die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung psychisch bedingt, nicht durch ein Trauma ausgelöst. Tanja B. sei in die Hände von Menschen geraten, die ihr Verhalten falsch gedeutet haben, sagt auch Richterin Methling. Zwei Mediziner hatten den Verdacht auf Borderline, nur in Kliniken sei das diagnostiziert worden. Ob das hallesche Gericht das wusste? Im damaligen Urteil findet sich nichts.

Rechtsanwalt Johann Schwenn, der zuletzt Wettermoderator Jörg Kachelmann erfolgreich gegen einen Vergewaltigungsvorwurf verteidigte, erhebt aber auch schwere Vorwürfe gegen eine hallesche Staatsanwältin. Sie habe zu verantworten, dass B. nicht schon 2009, sondern erst nach seinem Wiederaufnahmeantrag 2011 auf freien Fuß kam. Tanja B. hatte noch einmal Männer der Vergewaltigung beschuldigt, zwei Verfahren wurden 2009 und 2011 eingestellt, weil verschiedene Gutachter sie für unglaubwürdig hielten. Ersterer, jetzt rechtspsychologischer Gutachter im Prozess, sprach damals schon von "Scheinerinnerungen" und das dies auch Auswirkungen für die Aussage gegen ihren Vater haben kann. Spätestens da, so Richterin Methling, hätte die Staatsanwältin "die Notbremse ziehen" und B.s Anwalt informieren müssen.

Dieser Fall von richterlicher Inkompetenz wurde von der ARD in der Sendung Panorama vorgestellt.[2]

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